Harte Fügungen
Obwohl Hölderlin mehr als die Hälfte seines Lebens in Tübingen verbracht hat, ist der größte Teil seines Werkes nicht dort entstanden, sondern in Frankfurt am Main und Bad Homburg ebenso wie in Nürtingen und Stuttgart. Der Kosmos seiner Literatur reichte freilich weit darüber hinaus. Im Schreiben versuchte der Dichter die Welt als globales Ganzes zu fassen.
Ein Roman, ein Drama und zahlreiche Gedichte, aber auch theoretische, philosophische und poetologische Texte und Übersetzungen sind in Hölderlins Werk enthalten. Über alle Gattungen hinweg bewies er einen beständigen Willen zum Experiment. In der Literaturgeschichte kommt ihm ein Sonderplatz zu: Er lässt sich keiner Strömung zuordnen – weder der Klassik noch der Romantik. Mit deren Vertretern teilte er die Überzeugung, die Dichtung könne eine bessere Welt schaffen. Er übertraf sie aber in der Radikalität und Unbedingtheit, mit der er die Literatur dafür umgestalten wollte.
In seinem Sprachlabor trieb er die Dichtung bis an die Grenzen des Möglichen; er modernisierte Stoffe und Denkweisen der griechischen Antike und markierte einen einzigartigen ›Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben‹.
Hölderlins Briefroman ›Hyperion oder Der Eremit in Griechenland‹
Hölderlins ›Hyperion‹ von 1799 mit einer versteckten Widmung für Susette Gontard aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach
Als Student im Tübinger Stift hatte Hölderlin mit der Arbeit an seinem ›Hyperion‹ begonnen und noch im Turm entstanden Entwürfe zu einer Fortsetzung desselben.
Die Form des Romans, eines Erzähltextes in ungebundener Rede, war damals gerade erst auf dem Weg, eine akzeptierte literarische Gattung zu werden. Auch Hölderlin hatte sich zunächst noch in einer Versfassung nach antikem Vorbild geübt, bevor er mit seinem Experimentalroman ein »neues schönes Land« betrat.
Es gibt kaum ein Thema seiner Dichtung, das hier nicht zur Sprache kommt – etwa die Einheit mit der Natur, die Liebe und die Freundschaft, die Freiheit, das Göttliche, das Vorbild der Antike.
Hölderlins erste Buchveröffentlichung erschien 1797 und 1799 in zwei Bänden im renommierten Cotta-Verlag. Der Roman fasziniert mitunter auch durch seine Nähe zur Biografie des Autors. Schließlich wurde auch Hölderlin zum Eremiten: nicht auf der Insel Salamis, sondern in einem Turm in Tübingen am Neckar.
Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland
Ein Entwicklungsroman in Briefform
In Hölderlins einzigem Roman schildert der Grieche Hyperion seinem deutschen Freund Bellarmin rückblickend seinen Bildungsweg: Im Widerstreit zwischen Denken und Handeln war er zum schreibenden Eremiten geworden. Vom Wunsch getrieben, jene Vollkommenheit und Einheit in der Welt wiederherzustellen, wie sie in der Antike geherrscht haben soll, folgte er zunächst seinem philosophischen Lehrer Adamas und lernte dann den tatkräftigen Alabanda kennen, der ihn für den griechischen Befreiungskampf gewann.
Enttäuscht von den plündernden Griechen, trat er eine Bildungsreise an, zu der ihn die Geliebte Diotima im Angesicht der Trümmer des besetzten Athens zuvor bewegen wollte – er sollte zum »Erzieher unseres Volkes« werden. Nach dieser Reise, die ihn auch nach Deutschland führte, zog er sich ernüchtert auf eine Insel zurück – und wird Dichter. Denn weder die Philosophie noch die Tat überwinden die Zerrissenheit der Gegenwart, sondern allein die Schönheit, wie sie sich besonders in der Sprache der Dichtkunst zeigt. So ist der Roman selbst die Erfüllung jener Hoffnung, die am Anfang von Hyperions Bildungsweg stand.
Landkartenreisen nach Griechenland
»Griechenland war meine erste Liebe und ich weiß nicht, ob ich sich sagen soll, es werde meine lezte seyn«, bekennt Hölderlin in einer Vorrede zum ›Hyperion‹. Allerdings konnte er diesen Sehnsuchtsort nur »mit der Seele« (Goethe) suchen. Eine tatsächliche Vorstellung vom Griechenland seiner Zeit erlangte er lediglich über die Bücher, auf denen seine damals ungewöhnlich exakten Schilderungen von Landschaft und Menschen beruhen.
Karte aus Richard Chandlers ›Reisen in Griechenland‹
Aus Richard Chandlers Bericht über seine Reise durch Griechenland in den 1760er-Jahren hat Hölderlin ganze Passagen fast wörtlich übernommen. Das Buch des Engländers ermöglichte ihm auch die geografische Orientierung: So sieht Hyperion den Isthmus von Korinth zu Beginn des Romans, als ob er auf eine der beigefügten Landkarten blicken würde.
Hölderlins Trauerspiel ›Der Tod des Empedokles‹
Den ersten Plan zu seinem Trauerspiel fasst Hölderlin 1797 als Hauslehrer in Frankfurt kurz nach Erscheinen des ersten Bands zum ›Hyperion‹.
Geometrieheft mit Hölderlins ›Frankfurter Plan‹ zum ›Empedokles‹ aus der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart
Mehr als ein Jahr später machte er sich erneut daran. Im Laufe des Jahres 1799 entstehen drei Entwürfe, die sich in Länge, Ausgangspunkt, Dramaturgie und Figurenanlage unterscheiden, aber nie über den 2. Akt, in dem sich der Held in den Ätna stürzt, hinausgehen.
Dass darin auch die Folgen der Französischen Revolution verhandelt werden, wird deutlich, wenn Empedokles im zweiten Entwurf von seinen Gegnern vorgeworfen wird, seine aus der Nähe zu den Göttern resultierende Rolle als Anführer, selbst wenn sie vom Volk gewollt ist, bringe die Ordnung ins Wanken.
So wird auch Empedokles’ Freitod im dritten Entwurf des Dramas als notwendiges Opfer für das Volk definiert: Niemals dürfe sich ein Einzelner anmaßen, die Probleme seiner Zeit allein lösen zu wollen, wie es Robespierre und später Napoleon taten.
Empedokles – ein Revolutionsstück
Einst Liebling der Götter und des Volkes zieht sich der Philosoph Empedokles auf den Ätna zurück. Die ihm vom Volk dargebotene Krone lehnt er ab, um sich stattdessen allein mit der Natur zu vereinen.
Mit den mutigen Worten, die »Zeit der Könige« sei vorbei, lässt Hölderlin seinen Helden Empedokles die Krone ablehnen, die ihm vom Volk angeboten wird. Einst Liebling der Götter und des Volkes zieht er sich nun auf den Ätna zurück, um sich allein mit der Natur zu vereinen. Wenig später sucht er im Vulkan Ätna den Freitod.
Das Trauerspiel ›Der Tod des Empedokles‹ blieb der einzige ausgeführte Versuch des Dichters, ein Drama zu schreiben.
Mit der Legende um den griechischen Politiker und Philosophen, von dem die Lehre der vier Elemente stammt, versuchte Hölderlin – vor dem Hintergrund einer erhofften schwäbischen Republik – die problematischen Beziehungen zwischen dem Einzelnen, dem Volk und der Macht auszuloten. So erkennt Empedokles in seiner Position als Anführer etwa, dass das Volk keinen Alleinherrscher akzeptieren darf: »Euch ist nicht / Zu helfen, wenn ihr selber euch nicht helft.«
Empedokles bleibt nur der Freitod, von dem seine Sandalen, »die der Feuerauswurf aus dem Abgrund geschleudert hatte«, zeugen. Hölderlin, der darin das »Schicksal seiner Zeit« sichtbar machen wollte, nahm mehrfach Anlauf, um des Stoffes habhaft zu werden und durchbrach dabei die dramaturgischen Normen seiner Zeit. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Stück so für das Theater zu einer großen Inspirationsquelle.
Hölderlins Gedichtwerk
Wenn sich Hölderlin als 17-jähriger Klosterschüler in seiner Maulbronner Ode ›Mein Vorsaz‹ den zeitgenössischen Klopstock und den antiken Pindar zu Vorbildern nimmt, dann formuliert er bereits am Beginn seiner Laufbahn ein ungemein ehrgeiziges Programm: experimentell aus der Tradition zu schöpfen und zugleich modernste Formen zu wagen.
Klopstock hatte die deutsche Lyrik aus den Zwängen monotoner barocker Dichtungsnormen befreit und sogar eigene freie Rhythmen gewagt. Wenn Hölderlin zudem fasziniert auf »Pindars Flug« setzt, dann kalkuliert er die Gefahr des Scheiterns mit ein. Schon in der Antike hatte man Pindars Nacheiferer mit dem abstürzenden Ikarus verglichen.
Mit Worten wie: »Ich erreich’ ihn nie, den / Weltenumeilenden Flug der Großen«, inszeniert sich ein ehrgeiziger Jungdichter schwankend zwischen Anspruch und Verzagtheit – gleichwohl schon hier im ambitionierten griechischen Versmaß der alkäischen Strophe.
Friedrich Hölderlin: Mein Vorsaz
Schwacher Schwung nach Pindars Flug
Von der Maulbronner Klosterschule bis zum Einzug in den Tübinger Turm bezog sich Hölderlin in seinem Schaffen immer wieder auf Pindar. Dabei hatte die deutsche Rezeption des Griechen, der in der Antike als Höchster unter den Lyrikern galt, erst um Hölderlins Geburt herum neu eingesetzt.
Mit dem schwierigen Pindar, so war man sich damals einig, legen sich nur Genies an. Er galt ebenso als mustergültiger Klassiker wie auch als Meister der Regellosigkeit und der hermetisch abgeschlossenen Verse. Für Hölderlin, der auf der Suche nach neuen poetischen Formen war, wurde dieser Dichter des Eigensinns zum Gewährsmann einer Tradition des Traditionsbruchs.
Prof. Dr. Wilfried Stroh über Hölderlins Beschäftigung mit Pindar
Was hat die deutschen Dichter an Pindar fasziniert?
Wie wurden Pindars Gedichte in der Antike rezipiert?
Was hat Hölderlin in Pindar gesehen?
Hölderlin zackert am Pindar
Oktavbuch mit Hölderlins Pindar-Übertragungen aus der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart
Das Schreibbuch, in das Hölderlin zunächst einen der ›Empedokles‹-Entwürfe eingetragen hatte, nutzte er 1800 um und übersetzte dort 2000 Verse, in denen Pindar die Sieger der panhellenischen Spiele in Olympia und Delphi besungen hatte.
Am Inhalt dieser 17 Oden interessierte ihn aber allenfalls das Lob des Dichters und der Dichtkunst. Ihm ging es um die Form: Er übertrug Wort für Wort ins Deutsche, hielt jedoch strikt am fremden griechischen Satzbau fest.
Das war nicht völlig neu, doch Hölderlin hat dieses Vorgehen radikalisiert und sich von allen Dichtern am intensivsten auf Pindar eingelassen. Goethe hat sich nur an einer olympischen Ode probiert; Schiller an keiner. Hölderlin, der das Übersetzen schon früh »eine heilsame Gymnastik für die Sprache« nannte, lernte an Pindar so ein poetisches Prinzip, das seine Dichtung nun prägen wird und weit in die Moderne weist – die harte Fügung: jene widerspenstigen Satzkonstruktionen, in denen die Wörter jäh aufeinanderprallen.
» Hölderlin, der immer halb verrückt ist, zackert auch am Pindar. «
Johann Isaak von Gerning an Karl Ludwig von Knebel, Bad Homburg, 11. Juli 1805