Zwei Hälften des Lebens
00:00 | 00:00
Es scheint ein merkwürdiger Zufall, dass Hölderlins Leben passend zum Titel seines heute bekanntesten Gedichts in zwei Hälften zerfiel: In den ersten, von Auf- und Abbrüchen gezeichneten 36 Jahren seines Lebens hat er ganze 12 Mal die Wohnorte gewechselt. Seine letzten 36 Lebensjahre verbrachte er in einem Tübinger Turm am Neckar, von dem er sich kaum mehr wegbewegte.
Zwei früh verstorbene Väter, zehn streng regulierte und disziplinierte Schul- und Studienjahre an den evangelischen Bildungsanstalten Württembergs und häufig wechselnde Hauslehrerstellen, die ihm den einzigen Ausweg aus der für ihn vorgesehenen Theologen-Laufbahn boten, prägten die erste Hälfte seines Lebens. Erste literarische Erfolge, Kontakte zu Schiller und Goethe, aber auch herbe Enttäuschungen und Misserfolge widerfuhren ihm bei seinem Versuch, als Schriftsteller Fuß zu fassen. Vom Studium am Tübinger Stift führte der Weg nach Waltershausen an der Saale und Frankfurt am Main, nach Bad Homburg und Stuttgart, ins schweizerische Hauptwil und schließlich bis nach Bordeaux. Nirgends hielt es ihn länger als 2-3 Jahre, manchmal sogar nur wenige Monate. Dazwischen verliert er die Liebe seines Lebens, Susette Gontard, die Ehefrau seines Frankfurter Arbeitgebers, und muss deren frühen Tod verkraften. In den Jahren zwischen 1802 und 1806 verschlechtert sich sein psychischer Zustand dabei mehr und mehr.
Durch die Mutter veranlasst, wird Hölderlin Mitte September 1806 ins Tübinger Klinikum eingeliefert, wo er 231 Tage lang psychiatrisch behandelt wird. Nach seiner Entlassung im Mai 1807 nimmt ihn die Familie des Schreinermeisters Ernst Zimmer in ihrem Haus am Tübinger Neckar auf. Bis zu seinem Tod im Jahr 1843 wird Hölderlin dort bleiben. Der Unstetigkeit, von der die erste Hälfte seines Lebens geprägt war, steht die geradezu monotone Regelmäßigkeit jener zweiten Lebenshälfte gegenüber. Schweiften seine früheren Gedichte von der vertrauten Heimat, dem Neckartal und den dortigen Weinbergen, weit aus bis nach Griechenland, so beschränkten sich die sogenannten Turmgedichte auf das, was ihm nun unmittelbar vor Augen stand: Die Aussicht aus seinem Turmzimmer und der sich davor abzeichnende Wechsel der Jahreszeiten.
Das Gedicht ›Hälfte des Lebens‹ entstand jedoch bereits im Jahr 1803, als einiges im Wanken war, aber noch nicht alles verloren schien. Hölderlin war 33 Jahre alt und noch nicht ganz in der Hälfte seines Lebens. Christoph Theodor Schwab, der Herausgeber seiner ›Gesammelten Werke‹ rechnete ›Hälfte des Lebens‹ unter die Zeugnisse »aus der Zeit des Irrsinns«.