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Einführung in die Gebärdensprache

Hölderlin hat aus dem großen Schatz von Worten, Silben und Sätzen der deutschen Sprache seine Gedichte geformt. Einige dieser Gedichte wurden für die inklusive Sonderausstellung ›Hölderlin liebt…‹ in Deutsche Gebärdensprache adaptiert. Doch gibt es in der Gebärdensprache überhaupt Silben, Wörter und Sätze? Woraus bestehen sie? Wie werden sie gebildet? In einem Video-Vortrag gewährt die taube Linguistin und Gebärdensprachdolmetscherin Dr. Daniela Happ einen Einblick in die Feinheiten der Deutschen Gebärdensprache.

Eine kleine Einführung in die Gebärdensprache

von Dr. Daniela Happ

Was ist Gebärdensprache? Eine Sprache natürlich. Genau wie Lautsprache, wie Japanisch, Französisch oder jede beliebige Sprache. Sie hat nur eine andere Ausdrucksform. Lautsprache wird durch Mund, Lippen, Kehlkopf, die Öffnung der Stimmbänder und die dort hindurchströmende Luft wahrnehmbar, das Gehirn kann diese Laute als Sprache verarbeiten. Bei Gebärdensprache müssen Sie sich vorstellen, dass die eben beschriebenen Artikulationsorgane sozusagen nach außen gestülpt sind. Die Bewegung der Hände kann man mit dem durch die Stimmbänder hindurchströmenden Luftstrom vergleichen. Die Handformen, also wie ich hier als Beispiel angebe, kann man sich vorstellen wie die Zunge, die an die Zähne stößt oder welche Form die Zunge annimmt. Die Mimik beim Gebärden ist vergleichbar dem Tonfall oder Ausdruck, der Intonation beim Sprechen. So in etwa funktioniert Gebärdensprache.

Oft fragt man mich, ob Gebärdensprache international ist, sodass man sich überall auf der Welt damit verständigen kann. Das ist nicht der Fall. Jedes Land hat eine eigene Gebärdensprache, manchmal sogar zwei oder drei verschiedene. In Deutschland gibt es die deutsche Gebärdensprache, aber auch unterschiedliche Gebärdendialekte. Taube Menschen, die im Ausland auf andere gebärdensprachige Menschen treffen, stoßen auch auf Kommunikationsschwierigkeiten und Missverständnisse. Dennoch, wegen der Ausdrucksform mit viel Mimik ist die Kommunikation eher möglich als bei Lautsprachen, aber richtig in die Tiefe gehen und über alles kommunizieren kann man auch mit Menschen, die eine andere Gebärdensprache verwenden, nicht. Darum betone ich noch einmal: Gebärdensprache ist nicht international.

Gibt es Silben in Gebärdensprache? Um damit auf Hölderlin Bezug zu nehmen: Um Gedichte schreiben zu können, braucht man Silben. Alle Sprachen haben Silben, und wenn ich behaupte, dass Gebärdensprache eine natürliche Sprache ist, muss sie auch Silben haben. Das ist natürlich der Fall. Aber was sind Silben in Gebärdensprache?

Dafür müssen Sie zunächst einmal alles, was Sie über Lautsprache wissen, außer Acht lassen und Hören und Sprechen ausblenden. Wir betrachten jetzt Sprache sozusagen als Objekt, das wir untersuchen müssen. Wir versuchen herauszufinden, wie Sprache aufgebaut ist, wie ihre Strukturen sind. So kann man Silben objektiv erkennen.

Silben in Gebärdensprachen entsprechen Silben in Lautsprachen. Eine Silbe wird folgendermaßen definiert: Sie hat einen Silbenanfang, einen Silbengipfel und ein Silbenende. Der Silbengipfel wird definiert durch maximale Wahrnehmbarkeit. In Lautsprache sind Vokale, also die Laute /a/, /e/, /i/, /o/, /u/ maximal wahrnehmbar. Das Gleiche gilt für Gebärdensprache. Dort ist Bewegung der Silbengipfel, also maximal wahrnehmbar. Ein Beispiel ist die Gebärde für VATER: Der Silbenanfang ist an der Stirn, die Bewegung (Silbengipfel) geht zum Kinn (Silbenende). Es gibt genau wie in Lautsprache noch verschiedene Silbenpositionen, aber das wollen wir hier nicht vertiefen, wir heben uns ein wenig davon für spätere linguistische Beiträge auf.

Wie ich schon sagte, ist Gebärdensprache eine Sprache. Nun stellt sich die Frage, ob Pantomime auch eine Sprache ist. Das ist sie nicht, weil sie keine Regeln und Beschränkungen hat, während dies bei Gebärdensprache der Fall ist. Gebärdensprache hat eine bestimmte Menge an Möglichkeiten, Gebärden zu bilden. Eine Gebärde kann beispielsweise an der Stirn, am Brustbein, am linken oder rechten Oberarm beginnen oder im neutralen Gebärdenraum, wie z.B. bei der Gebärde für FAHREN oder UMZIEHEN – diese Gebärden werden im Bereich vor dem Oberkörper ausgeführt. Gebärden werden also innerhalb einer gedachten Halbkugel vor dem Oberkörper und Kopf ausgeführt, nicht an den Beinen, nur innerhalb dieser gedachten Halbkugel.

Pantomime nutzt den gesamten Körper. Wenn ein Pantomime bspw. das Laufen darstellen will, bewegt er die Beine, als würde er laufen, er bildet also die Wirklichkeit ab. In Gebärdensprache, das habe ich eben bei der Beschreibung der Pantomime gezeigt, codieren die Hände, in diesem Fall speziell die Zeigefinger, die sich bewegenden Beine. Gebärdensprache ist also eine Sprache, während Pantomime die Wirklichkeit abbildet. Bei Pantomime ist der Wiedererkennungswert hoch, die Zuschauer verstehen die Intention des Pantomimen, während Sie meine gebärdete Beinbewegung ohne vorherige Erläuterung sehr wahrscheinlich nicht verstanden, also nicht wiedererkannt hätten.

Für Sprache ist charakteristisch, dass sie Regeln und Beschränkungen hat. Ein neugeborenes Baby, das hörend auf die Welt kommt, kann alle sprachlichen Laute, die es gibt, sprechen und verstehen, na ja, theoretisch, Babys können ja nicht sprechen, aber theoretisch gesehen. In den ersten zwei Lebenswochen können Babys alle sprachlichen Laute wahrnehmen. Wenn Eltern mit ihnen sprechen, ›verringert‹ sich die Fähigkeit der Lautwahrnehmung auf die Laute, die in der Muttersprache relevant sind. Die Wahrnehmungsfähigkeit der anderen Laute verschwindet dann wieder. In Gebärdensprache ist es vergleichbar: Es gibt sehr viele Möglichkeiten, Gebärden zu bilden mit Handformen, Bewegungen etc. Gebärden die Eltern mit dem Baby und verwenden dabei z.B. bestimmte Handformen, erwirbt das Kind u.a. die für die Gebärdensprache (Muttersprache) relevanten Handformen und die anderen verschwinden wieder.

Ich möchte es an einem Beispiel verdeutlichen - das Beispiel erntet immer viele Lacher, denn es ist in Deutschland auch von ›den Hörenden‹ ohne große Erklärung zu verstehen. In der Deutschen Gebärdensprache gibt es eine bestimmte Menge an Handformen. In der Amerikanischen Gebärdensprache z.B. gibt es eine Handform, bei der die Hand geschlossen ist und nur Zeigefinger und kleiner Finger abgespreizt sind wie bei der Gebärde CAMP. In der Deutschen Gebärdensprache gibt es diese Handform nicht, wir benutzen es auch als Lehngebärde, aber es gibt keine anderen Gebärden in der Deutschen Gebärdensprache mit dieser speziellen Handform.

In der Japanischen Gebärdensprache gibt es die Handform mit dem ausgestreckten Mittelfinger. Für Deutsche ist das eine Erheiterung, da dies unter den Hörenden eine gewisse Bedeutung hat. Gebärdensprachige Menschen nutzen diese rüde Geste auch. Aber in der Menge der Handformen kommt diese Mittelfinger-Handform in der Deutschen Gebärdensprache nicht vor. In der Japanischen Gebärdensprache ist die Mittelfinger-Handform Teil der Menge der Handformen, in der Deutschen Gebärdensprache nicht. Genauso ist es mit (Deutschen) Lautsprache: bestimmte Laute kommen nicht vor und werden nicht benutzt. Wenn man dann eine Fremdsprache lernt, hat man große Mühe die Laute, die es im Deutschen nicht gibt, richtig zu lernen. Bei Reisen in das Land, dessen Sprache man gelernt hat, wird man schnell als Deutscher identifiziert, weil man am Akzent erkennbar ist.

Quizfragen

  1. 1

    Ist Gebärdensprache international?

  2. 2

    Was ist der Unterschied zwischen Gebärdensprache und Pantomime?

  3. 3

    Gibt es Silben in der Gebärdensprache?

Gefördert aus Landesmitteln durch die Arbeitsstelle für literarische Museen in Baden-Württemberg (DLA Marbach).

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