Hegel lesen mit Veronika Reichl
Ein Erfahrungsbericht unserer FSJlerin Sara Karanušić
Obwohl ich einmal gelesen habe, dass Hegel in seinen frühen Jahren ein ›Populärphilosoph‹ sein wollte, einer, dessen Philosophie für Alle und nicht nur für eine gebildete Elite verständlich ist, tendieren meine Erinnerungen an Begegnungen mit Hegel eher in eine entgegengesetzte Richtung. Jeder Versuch, in seine Schriften einzudringen, hatte etwas Hoffnungsloses - es schien absolut aussichtslos! Die langen, erhabenen Sätze voller hermetischer Ausdrücke und komplexer Gedanken waren einfach nicht mein Ding.
Also gab ich auf. Was sollte ich bei einem alten weißen Kerl von vor 200 Jahren, der über das Universum und die Formen labert schon verpassen? Ich lebte in der Glückseligkeit meiner hegelschen Ahnungslosigkeit weiter. Bis Veronika Reichl für das Begleitprogramm zu unserer aktuellen Sonderausstellung ›Idealismusschmiede in der Philosophen-WG‹ von Berlin nach Tübingen kam. Veronika ist eine facettenreiche und ungewöhnliche Persönlichkeit – sie bereichert diese Welt als Künstlerin, Performerin, Dozentin und Illustratorin. Schon Wochen, bevor ich sie kennenlernte, lief ich in unserer Sonderausstellung zwischen ihren seltsamen, abstrakten Illustrationen umher, ohne auch nur einen Gedanken an Hegel zu verschwenden.
Hölderlin und Hegel lebten während ihrer Studienzeit zusammen in Tübingen. Passend dazu organisierte der Hölderlinturm im Rahmen des Literatursommers der Baden-Württemberg-Stiftung eine Serie von Abendveranstaltungen unter dem Titel ›Wie sich das Denken versprachlicht‹, für die Veronika Reichl zu einer Lesung aus ihren Erzählungen und Illustrationen, die als Begleitband zur Ausstellung erschienen sind, und einem Workshop eingeladen war. Dabei sollte es um Gefühle, Erfahrungen und Ästhetik gehen, nicht unbedingt um den Sinn, und es verlangte keine Vorkenntnisse über Hegel, also sagte ich: klar, ich habe nichts zu verlieren, außer ein bisschen Geduld!
Die Lesung fand am 24. September statt und das Interesse wuchs, als wir unsere coronabedingten Schutz-Masken abnahmen und unsere Plätze in sicherer Entfernung voneinander fanden. Veronika Reichl berichtete über die verschiedenen individuellen Hegel-Leseerfahrungen, die sie im Laufe der Jahre gesammelt hatte, und stellte vor, wie sie Hegels theoretische Texte in Zeichnungen und Geschichten umgesetzt hat.
Der Workshop am nächsten Tag war meiner Meinung nach noch interessanter. Diesmal wagten wir uns selbst an eine experimentelle Lektüre von Hegels Texten. Im Sonderausstellungsraum des Turms saßen wir in einem Stuhlkreis mit 1,5 Metern Corona-Sicherheitsabstand und warteten gespannt darauf, was Veronika Reichl diesmal für uns aus dem Ärmel zaubern würde. Wir bekamen einige Exemplare von Hegels theoretischem Text ›Subjektiver Geist‹, bunte Eddings, Marker, Pastellstifte und Zeichenpapierblätter. Nach jeder Übung umkreisten wir Schritt für Schritt denselben Text aus vielen verschiedenen Blickwinkeln, da Veronika Reichl mit jeder Übung, die sie mitbrachte, immer wieder neue Möglichkeiten eröffnete, sich ihm zu nähern.
Wir teilten uns in verschiedene Museumsräume auf, lasen den Text für uns selbst laut vor und lasen, wie wir es für richtig hielten, ohne dem Sinn zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Darum ging es nicht – diesmal ging es bei Hegel um die Wahrnehmung, das Gefühl, die ästhetische Erfahrung, die sich aus einer bestimmten Abfolge von Wörtern ergibt. Ich habe bemerkt, dass ich bestimmte Sätze vorgelesen habe, als ob sie etwas wirklich Bedeutsames zu vermitteln hätten, etwas Mächtiges und Kraftvolles, obwohl ich die Bedeutung nicht verstand oder einige dieser Wörter im Deutschen gar nicht kannte.
Um die Bewegung des Textes nachzuahmen, überlegten wir uns in Zweierteams kleine Performances. Wir haben Ideen in Gesten und Figuren übersetzt und Mini-Theaterstücke gestaltet. Wir probierten auf verschiedene Vortragsweisen aus, wobei wir jeden Satz immer und immer wieder gelesen haben, doch jedes Mal mit Betonung auf anderen Wörtern, was uns über den Rhythmus und den Fluss im Text nachdenken ließ. Es ist kein Geheimnis, dass das Lesen unverständlicher Texte frustrierend sein kann, deshalb lud uns Veronika Reichl dazu ein, in Hegels Text alle Sätze und Passagen zu schwärzen, die uns ärgerten, die wir nicht mochten oder die Frustration weckten. Dann lasen wir vor, was übriggeblieben war.
Die spannendste Übung von allen blieb für das Finale übrig. Jede*r suchte sich eine Stelle im Text aus, nahm ein paar Farben und ein Blatt Papier und begann, die Bewegung des Textes auf das Papier zu übertragen. Es gibt keine Grenzen und keine Regeln – man geht von einem Punkt aus, und man illustriert, ohne zu viel nachzudenken. Sei es der Fluss einer bestimmten Wortfolge, vielleicht die Idee, die sich durch den Text durchsetzt, die Bewegung der Bedeutung oder des Gefühls, während man weiterliest. Ich habe mich von meinem Unterbewusstsein leiten lassen – es war fast wie eine freudianische Übung, bei der ich dem Pastell erlaubte, meine Hand zu führen, während ich diese großen Worte las, ohne anzuhalten, um sie zu verstehen. The results were exquisite.