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›Hälfte des Lebens‹ in Gebärdensprache

Ein Erfahrungsbericht unserer Praktikantin Franziska Walter

Als ich von dem Workshop zu ›Hölderlin in Gebärdensprache‹ hörte, nahm ich um ehrlich zu sein ziemlich naiv an, man könne Gedichte einfach Wort für Wort, oder zumindest Satz für Satz in Gebärdensprache übersetzen. Dass dies nicht so einfach funktioniert, wurde mir jedoch im Workshop ziemlich schnell klar.

Es war bereits der zweite Workshop, den der Hölderlinturm zu diesem Thema veranstaltete: Wie im vorausgegangenen Workshop, sollte auch diesmal wieder ein Gedicht im Mittelpunkt stehen, das unter Anleitung von professionellen Dolmetscher*innen in Gebärdensprache übersetzt wird. Diesmal war es Hölderlins Gedicht ›Hälfte des Lebens‹, das 1804 und somit noch vor Hölderlins Zeit im Tübinger Turm entstand.

Die Museumsleiterin Sandra Potsch und Krishna-Sara Helmle vom Büro für Leichte Sprache moderierten den Workshop. Für die Erarbeitung der Übersetzung war die Dolmetscherin Daniela Happ eingeladen, welche selbst gehörlos ist. Die beiden Dolmetscherinnen Anne Nagel und Rita Mohlau vermittelten zwischen den gehörlosen und hörenden Teilnehmer*innen.

Schon zu Beginn hatten die Teilnehmer*innen viele Fragen mitgebracht: Gibt es Dialekte in Gebärdensprache? Gehören die Mundbewegungen zur Gebärdensprache mit dazu? Und was ist eigentlich die Gebärde für »Tübingen«? Daniela Happ erklärte, dass die Gebärdensprache, wie jede lautsprachliche Sprache auch, ihre eigene Kultur hat, in deren geschichtlichem und gesellschaftlichem Kontext sie sich entwickelt. Welche Schwierigkeiten sich daraus für die Übersetzung von Gedichten ergeben, stellten wir sehr bald fest.

Wenngleich ›Hälfte des Lebens‹ zu den kürzesten und einfachsten unter Hölderlins Gedichten zählt, lässt es viel Raum für Interpretation. Mir fiel es nicht leicht, mich in das Gedicht hinein zu denken und seinen Bedeutungen nachzuspüren. Allerdings stammte meine letzte Gedichtinterpretation auch aus der Zeit meines Abis und ist damit schon ein paar Jährchen her. Die Teilnehmer*innen diskutierten eifrig über die Bedeutung der zwei konträren Strophen. Geht es hier um den Verlauf eines Lebens und die Gegenüberstellung von Jugend und Alter? Stehen die Schwäne vielleicht für den Dichter, der von der Muse geküsst wird? Oder setzt sich das Gedicht weit allgemeiner mit dem Verlust von Kultur auseinander?

Dabei galt es, gemeinsam eine Deutung zu finden, die sowohl dem lautsprachlichen Inhalt des Gedichtes gerecht wird, als auch in Gebärdensprache funktioniert. Den Musenkuss beispielsweise gäbe es unter den Bildern der Gebärdensprache gar nicht, so Daniela Happ. Generell lassen sich lautsprachliche Sinnbilder nicht direkt in Gebärdensprache übersetzen. Viel besser funktionieren Wörter mit konkreten Bedeutungen. Schwierigkeiten bereitete unter anderem auch das »heilignüchterne Wasser«. Schon in der Lautsprache ist es schwer zu greifen. Wie sollte sich das nun in eine Sprache übersetzen lassen, in der solche Wortneuschöpfungen gar nicht existieren? Schließlich wurde folgende Interpretation gefunden:

Ein Dichter befindet sich in einem Schreibrausch. Er ist versunken in seine eigene Welt. Man könnte auch sagen, er hat einen ziemlichen »Lauf«. Plötzlich stellt er sich vor wie es wäre, wenn er keine Inspirationen mehr hätte und nichts mehr zu Papier bringen könne. Ein Gefühl von Kälte und Leere durchzieht ihn bei diesem Gedanken. Zuletzt erwacht er aus dieser Vorstellung und sitzt wieder am Schreibtisch.

Mich hat die Übersetzung und Umsetzung des Gedichtes sehr beeindruckt und auch emotional berührt. Ich habe bei diesem Workshop sehr viel gelernt. Nicht nur, was die Übersetzung und Interpretation eines lautsprachlichen Gedichts in Gebärdensprache angeht, sondern ebenso Allgemeines über die Gebärdensprache und die damit verbundenen Diskurse und Barrieren in unserer Gesellschaft.

Hölderlinturm Tübingen

Bursagasse 6
72070 Tübingen

hoelderlinturm@tuebingen.de