Hälfte des Lebens
Bis zu seinem Tod hat Hölderlin hier Verse geschrieben. 48 Gedichte sind überliefert. In ihrer sprachlichen und rhythmischen Schlichtheit unterscheiden sie sich deutlich von seinen früheren Versexperimenten. Wieviele Gedichte in den 36 Jahren im Turm tatsächlich entstanden sind, ist nicht zu ermitteln.
Zwischen Hölderlins Auszug aus dem Stift und seiner dramatischen Rückkehr nach Tübingen liegen 13 Jahre – eine rastlose Zeit, geprägt durch unbefriedigende Hauslehrerstellen in Thüringen, Hessen, der Schweiz und Frankreich, die ausbleibende Anerkennung als Dichter, den Tod seiner großen Liebe Susette Gontard und das Versanden jener politischen Hoffnungen, die – ausgehend vom revolutionären Frankreich – auch Deutschland ergriffen hatten.
Ab Mai 1807 wurde der Turm zu Hölderlins neuem Lebensmittelpunkt. Bis zu seinem Tod im Juni 1843 hat er ihn und seine unmittelbare Umgebung nicht mehr verlassen. Obgleich von seinem Leben hier nur Momentaufnahmen überliefert sind – etwa, dass er oft schon um drei Uhr aufstand, stundenlang im angrenzenden ›Zwingel‹ spazieren ging und hier in diesem Raum mit der Familie Zimmer gegessen hat – muss sein Alltag im Turm vom Gleichmaß der Tage und der Jahreszeiten bestimmt gewesen sein.
Turmgedichte
An der Verlässlichkeit des Kalenderzyklus orientieren sich auch viele von Hölderlins Turmgedichten. Anders als in den vorausgegangenen Gedichten beansprucht er darin nicht mehr, »das Bleibende« zu stiften und die Welt zu verändern. Vielmehr scheint sich in den Versen aus jener Zeit eine Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit niederzuschlagen.
Darüber hinaus lassen sich die Stabilität des Reims, das regelmäßige Heben und Senken der meisten Verse wie auch die Sicherheit der wiederkehrenden Jahreszeiten als Therapeutika gegen innere Unruhe, Verwundung und Zerrissenheit verstehen.
Eine Gedichtausgabe aus fremder Hand
Werkausgabe von Hölderlins Gedichten, 1826 herausgegeben von Gustav Schwab und Ludwig Uhland, aus dem Nachlass von Christoph Theodor Schwab. Deutsches Literaturarchiv Marbach
Trotz mancherlei Bemühungen hat Hölderlin selbst nur wenige seiner Werke veröffentlichen können. Die einzige Sammlung seiner Verse zu Lebzeiten wurde 1826 ohne sein Zutun veröffentlicht.
Als er jenen Band 1841 von Christoph Theodor Schwab überreicht bekam, lehnte er das Geschenk ab, schrieb ihm auf dessen Bitte aber einige Zeilen hinein. Über die darin zusammengestellten Gedichte soll Hölderlin gesagt haben:
»Die sind von mir; aber der Name ist gefälscht, ich habe nie Hölderlin geheißen, sondern Scardanelli oder Scarivari oder Salvator Rosa oder so was.«
Die Herausgeber Ludwig Uhland und Gustav Schwab hatten jene Texte nicht in den Band aufgenommen, in denen ihnen »die Klarheit des Geistes schon bedeutend getrübt« erschien – darunter auch ›Hälfte des Lebens‹.
Scardanelli
Seine Turmgedichte unterzeichnete der Dichter nur noch selten mit dem Namen Hölderlin, sondern stattdessen »Mit Unterthänigkeit Scardanelli«. Gegenüber seinen Besuchern bestand er indessen energisch auf der Anrede »Herr Hofbibliothekar«.
Von seinem Besuch in Hölderlins Turmzimmer schildert Johann Georg Fischer:
»Beim Aufgang […] hörten wir vor der Thüre, wie Hölderlin auf seinem Tangenten-Klavier ziemlich leidenschaftlich phantasierte. Auf unser Anklopfen, das mit Herzklopfen geschah, lautete ein ziemlich heiseres, etwas hohles »Herein«. Unsere Verneigung erwiderte Hölderlin mit einer tiefen Verbeugung und entsprechender Handbewegung, die uns zu sitzen einlud. Er war bekleidet mit beblümtem Damastschlafrock und Pantoffeln. Uns vorzustellen war nicht nötig, denn er hatte den einen von uns mit ›Heiligkeit‹, den anderen mit ›Majestät‹ angeredet. Unsere Anrede an ihn mit Herr Doktor hatte er durch ›Bibliothekar‹ korrigiert.«
Die Jahreszeitengedichte
- 9x Frühling
- 5x Sommer
- 2x Herbst
- 6x Winter
Über die Zahl der Gedichte, die Hölderlin in seinen letzten 36 Jahre verfasst hat, kann man heute nur mutmaßen. Fast die Hälfte der überlieferten Gedichte widmet sich den Jahreszeiten: neun dem Frühling, fünf dem Sommer, zwei dem Herbst und sechs dem Winter.
Hölderlins Gedichtmanuskript ›Der Frühling.‹ aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach
Der Frühling.
Christian Reiner liest ›Der Frühling.‹
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Der Sommer.
1758.
Christian Reiner liest ›Der Sommer.‹
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Hölderlins Gedichtmanuskript ›Der Sommer.‹ aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach
Hölderlins Gedichtmanuskript ›Der Herbst.‹ aus der Fondation Martin Bodmer
Der Herbst.
Der Winter.
Hölderlins Gedichtmanuskript ›Der Winter.‹ aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach
Hölderlins Datierung der Jahreszeitengedichte
Selten entsprechen Hölderlins Datierungen dem realen Entstehungstag der Gedichte …
… zuweilen nicht einmal seiner Lebenszeit.
Der Stimm- und Sprechkünstler Christian Reiner hat 25 der 48 Turmgedichte auf CD eingesprochen.
Erschienen 2012 bei ECM