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Ein Gang von 42 Schuh Länge

Im langen Gang des Hauses soll Hölderlin zuweilen stundenlang auf- und abgegangen sein. Im Gehen suchte er auch nach passenden Reimen, Rhythmen und Metren für seine Gedichte.

Der Flur im Erdgeschoss des Turms: An der Wand schwingt ein Metronom. Die Lichtschienen und der Text im Treppenhaus beziehen sich auf Hölderlins Gedicht ›Hälfte des Lebens‹

An Hölderlins Versmaßen, heißt es, könne man die Schritte des rüstigen Fußgängers ablesen. Seine längste Wanderung führte ihn von Nürtingen bis nach Bordeaux. Im Tübinger Stift soll er nachts die anderen Studenten dadurch gestört haben, dass er hin- und herlaufend seine Gedichte ausprobierte. Und im Erdgeschoss des Turmes, hat er »einen Gang von 42 Schuh Länge bekommen, den er auch alle Tage mit gewaltigen Schritten« durchmaß. So berichtet es Ernst Zimmer.

Im Übrigen
Etwa zur gleichen Zeit wurde das Metronom erfunden. Als einer der ersten bestand Beethoven – im selben Jahr geboren wie Hölderlin – auf einer festen Geschwindigkeit, in der seine Sinfonien gespielt werden sollten. Hölderlins Credo hätte er geteilt: »Fest bleibt Eins; ... immer bestehet ein Maas«.

Hölderlins Metrik

Insbesondere die Versmaße sind es, die Hölderlins Gedichten einen ganz einzigartigen Sound verleihen. Nicht ohne Grund wird der Rhythmus eines Gedichts in Versfüßen (griechisch πούς poús, lateinisch pes) gemessen.

Der Trochäus, ein Versfuß aus einer betonten und einer unbetonten Silbe , heißt übersetzt sogar »laufend«, »schnell«.

Beim Skandieren, dem rhythmischen Abschreiten der Gedichte im Tanz, unterschied man in der Antike zwischen Aris (der Hebung des Fußes) und Thesis (der Senkung). In der griechischen Sprache wurden die Silben nach Längen und Kürzen gemessen. Im Deutschen unterscheidet man dagegen zwischen betonten und unbetonten Silben. Aus der Kombination aus betonten und unbetonten Silben ergeben sich verschiedene Versfüße.

τροχαῖος
trochaios

Trochäus

—◡

Rosen, Schwäne

ἴαμβος
ïambos

Jambus

◡—

Natur

δάκτυλος
dáktylos

Daktylus

—◡◡

Heidelberg, Himmlisches

ἀνάπαιστος
anápaistos

Anapäst

◡◡—

Poesie

In der Antike unterschied man nach zwei-, drei- und viergliedrig zusammengesetzten Versfüßen und hatte für jeden von ihnen einen Namen. Die griechische Sprache und Literatur der Antike ermöglichte dabei einen weit größeren kombinatorischen Reichtum als die deutsche Sprache. Hölderlin aber versuchte sich auch in diesen komplexen griechischen Versmaßen, wie eine metrische Analyse seines das Gedichts ›Hälfte des Lebens‹ beweist.

Im Übrigen
Der Daktylus (altgriechisch δάκτυλος – »Finger«), bestehend aus einer langen und zwei kurzen Silben (im Deutschen: einer betonten und zwei unbetonten), ist abgeleitet von den drei Gliedern eines Fingers: — ◡ ◡

Hälfte des Lebens

Die Lichtschienen im Erdgeschoss des Turms greifen das metrische Schema der letzten beiden Verse von Hölderlins bekanntestem Gedicht ›Hälfte des Lebens‹ auf.

Detailansicht der Lichtschienen. Auf den langen Schienen stehen die betonten, auf den kurzen die unbetonten Silben aus ›Hälfte des Lebens‹

1799 begonnen und 1805 erstmals veröffentlicht, nimmt der Titel bereits jene Wende vorweg, die Hölderlins Leben in zwei Hälften teilen wird. Er greift in seiner metrischen Gestaltung aber auch den Adonius, ein antikes Versmaß, benannt nach den Klagen um den Tod des Adonis, auf und gibt damit ein Beispiel für Hölderlins innovative Versexperimente: In dem gesamten, freirhythmisch komponierten Gedicht fächert Hölderlin den Reichtum der antiken Verskunst auf.

Versmaße in Hölderlins ›Hälfte des Lebens‹

Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm' ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Mehr zur Metrik von ›Hälfte des Lebens‹

Wolfram Groddeck: Zahl, Maß und Metrik in Hölderlins Gedicht ›Hälfte des Lebens‹

In: Weiterlesen. Literatur und Wissen, hrsg. von Ulrike Bergermann und Elisabeth Strowick, Bielefeld 2007

Hölderlinturm Tübingen

Bursagasse 6
72070 Tübingen